Grün schimmernde Traumwelten

Heinrich Steinfest – Das grüne Rollo (München: Piper, 2015)

In dieser Besprechung werden wesentliche Momente der Erzählung preisgegeben. Im Netz und in anderen Zusammenhängen wird dabei von einem spoiler gesprochen. Wenn Sie vorhaben, dieses Werk nicht zu lesen oder wenn Sie kein Problem damit haben, das Wechselmoment der Erzählung (im Netz: plot twist) bereits vorher zu kennen, lesen Sie bitte weiter. Falls Sie gern in den Genuss einer unvorbelasteten Lektüre kommen, rate ich vom Lesen dieses Beitrags ab.

In Heinrich Steinfests Das grüne Rollo, das in einem erstaunlich kurzen Abstand auf den, auf die Shortlist des Buchpreises des Buchpreises 2014 aufgenommenen, Allesforscher folgt, begleiten wir Theo März auf vielen Stationen seines Lebensweges. Die Erzählung setzt ein, als der Erzähler zehn Jahre alt ist und ein verhältnismäßig durchschnittliches Leben führt. Er beginnt seine ersten Gehversuche in einer Fremdsprache, dem Englischen, und ist auch ansonsten ein typischer Vertreter seiner Altersklasse.

Die Besonderheit unseres Erzählers beginnt mit der Tatsache, dass in seinem Elternhaus jegliche Vorhänge verpönt sind. Mit der Begründung „Wir sind doch nicht im Krieg“ verweigern die Eltern sich (und den Kindern) textilen Sichtschutz an Fensterscheiben. Umso erstaunlicher, dass eines Abends ein Rollo an Theos Fenster zu finden ist. Noch erstaunlicher, dass es immer um eine bestimmte Uhrzeit auftaucht und bei Kunstlicht verschwindet. Dieses Rollo, welches (manch aufmerksamer Geist hat es am Titel bereits erahnt) die Farbe grün hat, ist nichts weniger als ein Portal in eine andere, grüne Welt. In die sich Theo nach einigen Nächten des Rollo-Beobachtens auch stürzt.

Hier beginnt die Reise in unbekannte und ihrer eigenen Logik folgenden Gefilde. Heinrich Steinfest gelingt es grandios, die LeserInnen in eine Traumwelt zu entführen, welche unerhörte Elemente und undurchschaubaren Gesetzen folgende Topographien enthält, dabei jedoch so zwingend in sich geschlossen ist, dass man keinen Moment an der Kohärenz dieser „grünen Rollowelt“ zweifelt. Der Protagonist hat nun einige Abenteuer in dieser Parallelwelt zu bestehen, die – so viel sei gesagt – seine eigene, nicht vom grünlichem Licht durchflutete, Welt beeinflussen.

Die Differenz zwischen „realer“ und „Rollowelt“ werden auch typographisch markiert: Immer, wenn sich Theo innerhalb der Traumwelt befindet, wird der Text in einem angenehm zu lesenden Dunkelgrün gesetzt – die Lesenden können somit immer folgen, in welcher der Dimensionen sich die Handlung gerade abspielt.

Nach überstandenen Abenteuern in der Kindheit verfolgen wir Theos Werdegang, der nicht immer ganz gewöhnlich ist. So heiratet er und bekommt im fünf Söhne im Abstand von genau einem Jahr, wird Astronaut einer privaten Raumfahrtmission und – trifft auf dem Weg zum Mars erneut auf ein aus dem Nichts auftauchendes Rollo, in das er sich stürzt, weil die Weltraumkatze den gleichen Weg gegangen ist.

Der Clou des Romans liegt in der Komposition: Zu Beginn heißt es, der erste Teil sei „der erste von zwei, womöglich drei Teilen“ (S. 5). Während im ersten Teil die Kindheit des Erzählers im Mittelpunkt steht, berichtet der zweite Teil von den Erlebnissen und Erinnerungen des 50-Jährigen Theo März. Als LeserIn dieser ersten Teile gewöhnt man sich an die eigene Logik und phantastischen Elemente, nimmt sie als Teil des märchenhaften Settings an. Dabei ist eine gelungene Kohärenz hergestellt – die kindliche Begeisterung des Protagonisten für die englische Sprache findet ihr Spiegelbild in der Bemühung seiner späteren Chefin, das englische als lingua franca im Weltraum herauszufordern. Eben diese Chefin, eine Mäzenin mit unermesslichem Reichtum, aber ohne jegliche Geschichte, ist man geneigt, als eine der grünen Rollowelt entflohene Figur zu identifizieren.

Der „womöglich dritte Teil“, der auch als solcher überschrieben wird (S. 269), zertrümmert diese Kohärenz jedoch. Der Erzähler des dritten Teils, ein Arzt, lässt das Leben Theo März‘, der seit seinem zehnten Lebensjahr im Wachkoma liegt, Revue passieren. Ganz in der Art von Filmen wie A Beautiful Mind wird hier die Rezeptionserfahrung auf den Kopf gestellt und somit im Nachhinein eine Erklärung für übernatürliche und unglaubliche Begebenheiten geliefert. Steinfest legt damit ein belletristisches Experiment vor: Den Versuch, das Bewusstsein eines Wachkomapatienten zu bebildern. Bekanntermaßen nehmen Menschen im Wachkoma Eindrücke ihrer Umwelt auf. Steinfest verknüpft nun Elemente der „realen Welt“ (Katze sitzt auf Brust des Patienten) mit der dazugehörigen Wahrnehmung (Theo erlebt Abenteuer, während er eine Katze im Ausschnitt seiner Jacke trägt). Der Roman ist somit ein einfühlsamer Versuch, das Befinden von Wachkomapatienten zu verstehen und den Umstand, dass solche Menschen durchaus Gefühlsregungen haben, plastisch darzustellen.

Dabei ist es den LeserInnen durchaus überlassen, ob diese Erklärung überhaupt gelten soll. Denn schließlich ist der Bericht des Arztes ja nur der „womöglich dritte Teil“. So können Rezipierende selbst entscheiden, ob sie diesen Roman als Spekulation um das Bewusstsein eines Wachkomapatienten lesen oder aber als rasante Abenteuergeschichte mit SciFi-Elementen.

Heinricht Steinfests Das grüne Rollo ist ein Lesevergüngen, das von Einfallsreichtum und Detailverliebtheit strotzt. Neben der überzeugenden Darstellung von Traumwelten bietet der Roman einige interessante Ansätze, wie sich das Leben in der Zukunft ausnimmt (so ist von „Rechtsnachfolgern der NASA“ die Rede [S. 144], ein Umstand, der nicht weiter ausgeführt wird; die Marsmission wird von privaten Geldgebern finanziert) und immer wieder witzige Gedanken, welche schon beinahe Aphorismencharakter haben („Kaum ist Krieg, kümmert sich kein Schwein mehr um die Mülltrennung.“ S. 219).

Etwas getrübt wird das Lektürevergnügen durch den mitunter eigenwilligen Stil Steinfests. So baut er immer wieder Ellipsen in den Erzählfluss ein (die man auch nicht als Markenzeichen des Erzählers Theo abtun kann, sie finden sich auch im Bericht des Arztes) und neigt zu billigen Tricks der Retardierung, welche man auch in mündlicher Kommunikation eher als Ärgernis denn als rhetorischen Kunstgriff wahrnimmt. Ein Beispiel: Über die zweite Frau des Erzählers heißt es: „Auch hatte sie nicht vor, sich irgendwie in die Herzen meiner Söhne zu arbeiten. Bei einem aber…“ (S. 160) Es ist schon zu erahnen, später stellt sich heraus, dass diese zweite Frau eine Affäre mit einem der Söhne Theos eingeht. Abgesehen von diesen stilistischen Schwächen ist Heinrich Steinfests Roman ein vergnüglicher Zeitvertreib, der seine LeserInnen auffordert, über die Würde von Patienten nachzudenken, die manchmal allzu leichtfertig als „Gemüse“ abgetan werden.

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